Südnorwegen
In Spangereid, einer uralten Siedlung an der Südspitze Norwegens, lebte einst Kraka, eine junge Bauerntochter. Sie soll der Sage nach so schön gewesen sein, dass die Gefolgsleute des Wikingerkönigs Ragnar, die dort nächtigten, einige Brotlaibe ins Feuer warfen, um im Schein der auflodernden Flammen das Mädchen besser betrachten zu können. Der König hörte davon und befahl ihr, zu ihm zu kommen – weder bekleidet noch unbekleidet, weder satt noch hungrig, weder allein noch in der Gesellschaft eines anderen Menschen. Sie widersetzte sich dem Befehl nicht und erschien in ein Netz gehüllt, hatte lediglich eine Zwiebel gegessen und wurde von einem Hund begleitet. Entzückt von Krakas Liebreiz und Klugheit nahm Ragnar sie umgehend zur Frau.
Ob allerdings die raubeinigen Kerle früher auch ein Auge für diesen herrlich zerklüfteten, beinahe mediterran wirkenden Küstenstrich hatten, darf doch sehr bezweifelt werden. Darüber wurde jedenfalls nie berichtet, wie überhaupt in den Folgezeiten über etliche Generationen hinweg kaum jemand der Gegend, die heute den Namen Sørlandet trägt, Beachtung schenkte. Das änderte sich erst, als vor etwa 200 Jahren die glanzvolle Epoche der großen Handelsflotten ihren Anfang nahm.
Damals verdienten die Bewohner vornehmlich mit dem Bau von hochseetüchtigen Frachtschiffen und Holzhandel viel Geld. Um den neu erworbenen Wohlstand schon von der Ferne aus für jedermann sichtbar zu machen, strichen sie ihre Häuser blendend weiß. Vorher hatten sie, wie auf dem Land sonst überall üblich, das billigere Falunrot verwendet. So entstand nach und nach im Gebiet zwischen dem Oslofjord und Kristiansand eine Kette von zauberhaften, ganz in Weiß gehaltene Städte aus Holz.
Da zudem wegen des milden Golfstroms die Sonne hier sehr viel häufiger scheint als im übrigen Skandinavien, entwickelte sich die Region zur beliebtesten Sommerfrische der Norweger. Sie bezeichnen den Küstenabschnitt stolz als Riviera - ein Vergleich, der nicht ganz aus der Luft gegriffen scheint. Zwar ist die Saison kurz, und nach Pasta und Palmen hält man vergeblich Ausschau, doch die vielen feinsandigen Strände machen den Streifen zum begehrtesten Badeziel in Norwegen. Länger anhaltenden Regen müssen die Urlauber auch kaum befürchten, da die dicken grauen Atlantikwolken bei der häufig herrschenden Nordwestströmung bereits an den hohen Bergkämmen des Fjordlandes ihre nasse Fracht entladen.
Erste Gäste waren – wie könnte es anders sein – wieder einmal die Künstler: Edvard Munch etwa, der sicher berühmteste Maler des Landes. Er mochte vor allem den Ort Åsgårdstrand sehr, wo auch sein hoch beachtetes Werk „Mädchen auf der Brücke“ entstand, das in der Osloer Nationalgalerie ausgestellt ist. Ein Bilddetail jedoch erschien vielen lange Zeit rätselhaft: Warum spiegelt sich zwar ein Haus, aber nicht die tief stehende Sonne über dem Dach auf der stillen Wasseroberfläche?
Forscher aus Texas fanden es vor einigen Jahren heraus. Sie begaben sich genau an die Stelle, wo die drei Mädchen auf der Brücke Modell gestanden haben müssen. Ihre Berechnungen belegen zweifelsfrei, dass die gelbe Scheibe nicht wie angenommen die Sonne darstellt, sondern den Mond – und sein Spiegelbild wegen des hohen Betrachterstandpunktes nicht sichtbar ist.
Den lichterfüllten Gesamteindruck erklären sie verblüffend einfach mit den hiesigen hellen Sommernächten. Munch besaß offenbar die Gabe, Stimmungen höchst präzise auf Leinwand zu bannen. Er, der zeitlebens als kränklich galt, zog sich gerne in einer Fischerhütte zurück, die er „Glückshaus“ nannte. Heutige Besucher erhalten dort anhand der ärmlichen Möbel und verschiedenen Utensilien von damals einen Einblick in sein beschwerdereiches Leben: So stehen etwa im Wandschrank eine große Anzahl brauner Medizinfläschchen.
Doch für düstere Gedanken ist an der Küste sowieso kein Platz. Sie verfliegen spätestens beim Anblick weiterer Städteperlen wie Langesund oder Kragerø. Dabei wirkt Langesund fast schon zu beschaulich und zugleich ein wenig elitär, mit den chromblitzenden, elfenbeinfarbenen oder blau-weißen Yachten am Pier, während in den Altstadtgassen von Kragerø ein frischer jugendlicher Geist weht. Kneipen und Restaurants sind hier im Sommer oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Klappe auf für einen Werbefilm? Die Hafenkulisse von Kragerø wäre in jedem Fall ein tolles Einstiegsmotiv: Hier liegen große und kleine Schiffe vor Anker, stattliche Windjammer fahren mit geblähten Segeln hinaus aufs Meer und wackelige Bötchen kreuzen zwischen einigen der 495 (!) vorgelagerten Mini-Inseln umher – alles begleitet vom anhaltenden Klappern der Takelagen im Wind.
Das nahegelegene Risør mit einem lückenlosen Ensemble zweistöckiger Patrizierhäuser rund um das Hafenbecken würde ebenfalls einen idealen Filmrahmen bieten. Gegenüber befindet sich am Sandnesfjord der Campingplatz „Sørlandet Feriesenter“, den insbesondere Angler und Taucher enorm schätzen. Generell ist anzumerken, dass viele Plätze in Norwegen bereits im April oder Mai öffnen oder gar Ganzjahresbetrieb melden, was mitunter einen falschen Eindruck erweckt. Denn geschlossene Rezeptionen sind in der Nebensaison vor allem auf kleinen Plätzen eher die Regel als die Ausnahme. Davon sollte man sich jedoch nicht beirren lassen und einen Standplatz beziehen, der einem am besten gefällt. Irgendwann in den Abendstunden oder am nächsten Morgen kommt dann jemand vorbei, um die Gebühren zu kassieren. Die sanitären Einrichtungen sind selbstverständlich rund um die Uhr zugänglich. Im Juli und August herrscht hingegen eine andere Situation: Da ist es ziemlich schwierig überhaupt ein freies Plätzchen zu ergattern.
Die nette Schweizer Familie im Fahrzeug nebenan auf Camping Marivold in Grimstad hat in der Tat Großes vor: Sie will mal eben an das noch rund 2300 Kilometer entfernte Nordkap düsen - und schnurstracks soll´s auch wieder heimwärts gehen. Die dafür eingeplanten zwei Wochen erscheinen doch reichlich knapp bemessen. „Na dann viel Spaß,“ sagen wir zum Abschied, mit voller Zuversicht auf eine Reihe weiterer, prächtiger Sommertage in Sørlandet, die uns allemal mehr Erholung versprechen. Entspannte Stunden verspricht etwa ein Bummel durch das verwinkelte, nostalgisch anmutete Grimstad. Hier absolvierte einst der Schriftsteller Henrik Ibsen einst eine Lehre beim Stadtapotheker. Der örtliche Hafen ist auch ein gerne genutzter Ausgangspunkt, um per Ausflugsboot die Schärenwelt zu erkunden. Weiter draußen auf dem Meer beginnt das Revier der Profifischer, die in erster Linie Dorsch und Heilbutt fangen.
Freizeitangler fischen indes oft lieber in den sauberen Gewässern des riesigen und vielerorts einsamen Hinterlandes. Als erstklassige Fanggründe für Forellen gelten dort vorzugsweise die zahlreichen Flüsse und Seen in der Umgebung von Åseral. Die Gemeinde liegt zirka 80 Kilometer nördlich des Ferienortes Mandal. Für Anfänger gibt es das Angebot, einen Führer zu buchen, der die besten Stellen kennt und darüber hinaus jene zeigt, wo man mit etwas Glück Biber beobachten kann.
Welche Lieblingsplätze Elche haben, verraten ortskundige Experten auf so genannten „Elchsafaris“, die unter anderem von Camping Neset am Byglandsfjord durchgeführt werden. Zu vorgerückter Stunde – meist nach 22 Uhr – beginnt die Tour, denn die extrem scheuen Tiere treten immer erst nach Eintritt der Dunkelheit aus den Wäldern. Auf dem Byglandsfjord, der genau genommen ein Binnensee ist, verkehrt im gemächlichen Tempo das 1866 erbaute Dampfboot Bjoren. Das niedlich aussehende, doch immerhin 26 Tonnen schwere Schiffchen wird von einem 42-PS-Motor mit holzbefeuerten Kessel angetrieben.
Deutlich flotter auf dem Wasser unterwegs ist man auf einer Raftingtour den streckenweise wilden Otra-Fluss hinab. So eine Fahrt zählt garantiert zu den aufregendsten Erlebnissen in Südnorwegen. Besonders beim ersten Mal gehört freilich ein Quäntchen Mut dazu, sich auf das ausgesprochen nasse Abenteuer einzulassen. Der Anbieter Troll Aktiv in Evje bietet je nach Erfahrung der Teilnehmer drei verschiedene Schwierigkeitsgrade an.
Wie reich der Boden an Mineralien ist, offenbart ein Besuch der „Flaat Gruben“. Mit ihrem 422 Meter tiefen Schacht und einer Gesamtförderleistung von 3,3 Millionen Tonen Erz zählte sie früher zu den größten Nickelgruben in Europa. Mehr noch aber faszinieren uns die einzigartigen Formen und Farben der Kristalle, die der „Setesdal Mineral Park“ im benachbarten Hornnes präsentiert: beispielsweise ein goldfarbig glänzender Markasit oder ein silbriger Pyrit, beide auf Calsit. Alle Ausstellungsstücke stammen aus der Umgebung. Sie beweisen nachdrücklich, dass sich die Schönheiten von Sørlandet nicht auf Landschaften, Städte und Bauernmädchen beschränken, sondern bis weit unter die Erde reichen.