Mongolei
Otgonbayar ist ein stiller Mensch, der zufrieden wirkt. Oft lächelt er oder strahlt über das ganze Gesicht - vermutlich, weil ihm seine drei Kinder daheim große Freude machen und er seinen Fahrerberuf sehr liebt. Akribisch wischt er mit einem trockenen Tuch bei jeder Rast den Staub vom Wagen. Wie Otgonbayar es schafft, dabei den Lack nicht zu zerkratzen, bleibt sein Geheimnis.
Vor einigen Wochen hat es im Süden der Mongolei außergewöhnlich heftig geregnet. Jetzt, wo der Sommer langsam ausklingt, herrscht Bilderbuchwetter: Silbrig schattierte Wölkchen gleiten am tiefblauen Himmel. Am meisten beeindrucken die grenzenlose Weite und ein Meer aus bunten Blumen, das man hier nicht erwarten würde. Wir halten immer wieder an, gucken, staunen und atmen die klare Luft ein, die das Gobi-Altai-Gebirge zum Greifen nah erscheinen lässt.
Löffler flattern aufgeregt über einen kleinen See. Schließlich lassen sich die stattlichen Vögel mit weißem Gefieder und langen schwarzen Beinen neben weiteren Artgenossen nieder, welche im seichten lehmigen Wasser umherstaksen. Der ebenfalls schwarze Schnabel ist - ihr Name verrät es - wie ein breiter Löffel geformt, mit dem sie den schlammigen Grund nach Fressbarem durchsieben.
Der Boden in der Umgebung ist aufgeplatzt und zeigt ein bizarres Muster aus tiefen handbreiten Rissen. Hier wächst unter anderem Saksaul, ein knorriger, strauchähnlicher Baum, der dem extremen Kontinentalklima Zentralasiens auf durchschnittlich etwa 1700 Meter Meereshöhe erfolgreich strotzt.
Zwei Burschen auf einem chromblitzenden Motorrad aus ehemals ostdeutscher Fertigung tuckern vorbei - erwähnenswert deshalb, weil seit der letzten Begegnung mit einem anderen Fahrzeug viele Stunden vergangen sind. Der Bezirk (man sagt Aimak dazu), der sich Südgobi nennt, ist ungefähr doppelt so groß wie Bayern, aber nahezu menschenleer. Die Entfernung zur Nachbarjurte beträgt nicht selten 100 Kilometer.
Die fiesen Querrillen in der Piste lassen oftmals nur Tempo 30 zu. Doch aus einem anderen Grund zeigen sich auf Otongbayars Stirn zunehmend Sorgenfalten: Immer wieder schielt er misstrauisch auf den Zeiger des Kühlwasserthermometers, der sich unaufhaltsam in den roten Bereich bewegt. Womöglich ist der Keilriemen der Wasserpumpe gerissen, was ein kurzer Blick unter die Motorhaube bestätigt.
Freilich hat der Mann gut vorgesorgt und einen Ersatzriemen dabei - samt großen Werkzeugkasten und extra Arbeitsklamotten. Es nutzt aber alles nichts, denn das Teil passt nicht, da viel zu lang. Das Schlitzohr von einem Verkäufer in der Stadt habe ihm wohl einen falschen angedreht, meint er frustriert.
Der Nachmittag schreitet zügig voran, doch es geht von nun an so gut wie gar nicht mehr vorwärts: Wir fahren einen Kilometer und machen zehn Minuten Pause, um den Motor etwas abkühlen lassen. Ob man in dieser Wildnis nachts unter dem gewöhnlich prächtig funkelnden Sternenzelt unbesorgt schlafen kann? Gibt es giftige Schlangen, Schakale oder anderes unliebsames Getier? Das sind Fragen, die sich anschicken, das letzte Fünkchen guter Laune auch noch zu ersticken.
Plötzlich, als es gerade dunkel wird, lässt das trübe Scheinwerferlicht eines Uralt-Minibusses aus Sowjetzeiten Hoffnung aufkeimen. Er stoppt. Drinnen junge Leute aller Nationen. Sie rücken gerne auf den spartanischen Sitzen zusammen, um die gestrandeten Passagiere ins nächste, nur noch gut 15 Kilometer entfernte Camp mitzunehmen - unser tapferer Chauffeur wird sicherlich irgendwann in der Nacht ebenfalls dort heil ankommen.
Ein smarter Franzose, der wie er vorgibt fünf Sprachen spricht, erzählt, dass er vor sechs Monaten mit einem Fahrrad in Paris aufgebrochen ist. Zwischendurch studierte er mal hier, mal da ein wenig: in Odessa zum Beispiel vier Wochen Russisch. Das Rad hat er vor Kurzem in Ulan Bator in Verwahrung gegeben und nun macht er quasi ein paar Tage Urlaub. Seine Reise um den Globus soll noch weitere dreieinhalb Jahre dauern. Ähnlich Verrücktes wissen auch ein hoch gewachsener Australier und ein zierliches Texas-Girl zu berichten.
Am nächsten Morgen sieht Otongbayar - seine Augen sind gerötet - furchtbar müde aus. Kaum verwunderlich, denn schon in aller Frühe schnitzt er mit einem stumpfen Messer aus der Lagerküche an einem etwas zu breiten Keilriemen herum, den ihm ein Kollege geschenkt hat. Mein zur Verfügung gestelltes Taschenmesser aus eidgenössischer Produktion beendet das Drama im Nu: Damit schneidet er sauber an den Flanken jeweils einen Millimeter ab. Jetzt passt der Riemen perfekt - und Otongbayar strahlt wieder.
Zauberhaft ist die Lage des Camps mit weitem Panoramablick auf Khongoryn Els, einer fantastischen Sanddüne, die zwar nur wenige hundert Meter schmal, aber unglaubliche 180 Kilometer lang ist. An manchen Stellen türmt sie sich bis zu 300 Meter auf. Direkt dahinter verläuft ein dunkler schroffer Gebirgszug, der mit dem hell strahlenden, vom Wind modellierten Sandgürtel ein geradezu unwirkliches Gesamtbild abgibt. Vor der Düne - man glaubt es kaum - plätschert dazu ein mit viel Grün gesäumtes Bächlein dahin, wo durstige Kamele sich regelmäßig zum Umtrunk versammeln.
Übrigens erzählt eine Legende aus der Gobi, dass Gott das Kamel für seinen Großmut und seine Güte belohnen wollte und ihm ein Geweih schenkte. Der Hirsch kam zum Kamel und bat es, ihm für kurze Zeit das Geweih zu leihen. Das gutgläubige Tier vertraute dem Hirsch und überließ ihm das Geweih. Aber der Hirsch kam nie zurück. Deshalb schauen Kamele immer so traurig in die Ferne und halten noch immer Ausschau nach dem Hirsch.
Die Mongolei ist ungefähr 4,5 mal größer als Deutschland. Sie ist gemessen an ihrer Fläche nicht übermäßig mit herausragenden Naturschönheiten gesegnet - die wenigen sind aber dafür um so eindrucksvoller. Zu ihnen zählen ganz bestimmt die rund geschliffenen Felsformationen um Elsen Tasarchai, wo man zudem sehr schön erkennen kann, wie Gebirge, Steppe und Halbwüste fließend ineinander übergehen. Ebenso die "Flaming Cliffs", eine Art Steilküste im Trockenen aus rotorangenem Sandstein. Bereits mehrfach machte die imposante Wand als Fundort prähistorischer Knochen weltweit Schlagzeilen.
Wissenschaftler fanden dort beispielsweise die Skelette von zwei Dinosauriern, einem Protoceratops und einem Velociraptor, die offenbar im Kampf miteinander ringend von Sandmassen verschüttet wurden. Und nur wenig später wurden in der Nähe das gut erhaltene Gerippe einer bisher unbekannten Art freigelegt - der Urvogel aus der Kreidezeit mit dem Namen Mahakala omnogovae war zirka 70 Zentimeter groß.
Als weiterer landschaftlicher Höhepunkt in der Südgobi gilt die Geierschlucht, die sogar einen Minigletscher vorweisen kann. Die steilen Wände zu beiden Seiten führen nämlich dazu, dass die sengenden Sonnenstrahlen selbst im durchweg heißen Hochsommer diesen entlegenen Hochgebirgswinkel so gut wie nicht erreichen.
Mit etwas Glück hat man auf einer kleinen Wanderung dorthin die Gelegenheit, nicht nur Geier zu erspähen, sondern auch Argalis: braune Riesenwildschafe, die am Bauch ein hellen Streifen aufweisen. Die Böcke - wahre Schwergewichte mit bis zu 200 Kilogramm - tragen prachtvoll geschwungene Hörner.
Gäste aus aller Herren Länder, die dem Mythos Dschingis Khan nachspüren wollen, zieht es ins nördlich gelegene Karakorum - oder besser gesagt an die Stelle, wo einst sein sagenumwobener Palast stand, der rund vier Jahrzehnte lang die Machtzentrale des mongolischen Weltreiches war. Doch kein einziges Gebäude ist mehr erhalten. Größte Überbleibsel sind zwei überdimensionale steinerne Schildkröten - Symbole für Weisheit und langes Leben.
Deutsch-mongolische Ausgrabungen förderten ansonsten in erster Linie Kuppelöfen und Feuerstellen zutage, welche auf große Handwerkertätigkeit schließen lassen. Menschen verschiedenster Nationalitäten und Glaubensrichtungen sollen hier gelebt haben - in der Mehrzahl aber Chinesen, worauf zahllose Bruchstücke deuten. Diese stammen von jenen leicht geschwungenen Satteldächern, wie sie im alten China verbreitet waren.
Besichtigen kann man aber nebenan das Kloster Erdenedsuu, das 1586 aus den Trümmern der zerstörten Hauptstadt errichtet wurde. Es war das erste lamaistische Kloster im Land. Die quadratische Anlage wird von jeweils 420 Meter langen Mauern gesäumt, die insgesamt 108 Stupas zieren. Einige Tempel konnten trotz bescheidener Geldmittel mittlerweile ansehnlich restauriert werden. Vor allem die frischen roten und blauen Farben stechen ins Auge.
Beim Besuch einer Nomadenfamilie, sind gewisse Gebräuche zu beachten. Zum einen darf man nicht auf die Schwelle der Jurte treten, oder mit dem Kopf den niedrigen Türbalken berühren - zum anderen sollte man es vermeiden, die Füße beim Hinsetzen in Richtung Herd zu strecken. Auch sollte man sich davor hüten, etwas zwischen den beiden Mittelsäulen hindurchzureichen. Das würde großes Unglück für die Familie bedeuten. Auch, wenn die gereichten Speisen meist fettig und für den europäischen Magen gewöhnungsbedürftig sind: kosten oder nippen sollte man sie in jedem Fall!
Auf traditionelle Gastsitten scheint man in der stetig wachsenden Hauptstadt Ulan Bator nur noch wenig Wert zu legen. Überall schießen glitzernde Konsumtempel aus dem Boden - lächelnde Mongolen sieht man dagegen immer weniger. Trotz zahlreicher teurer Limousinen und Geländewagen, die immer häufiger die Straßen verstopfen, kämpfen nach wie vor viele tagaus, tagein um eine bescheidene Existenz. Auf dem Land sorgen eben die Viehherden für den täglichen Bedarf und ein sicheres Grundeinkommen. Nicht ohne Grund besagt ein altes mongolisches Sprichwort: "Ulan Bator muss du ertragen, die Mongolei aber lieben."