Abruzzen
Besonders stolz ist Tommaso D’ Amico (73) darauf, dass er vor einigen Jahren seinen lang gehegten Lebenstraum verwirklichen konnte: die Besteigung des zweithöchsten Gipfels der Erde, des legendären K2. Weil er als Kind klein und schmächtig war und durch jede Öffnung passte, nennen ihn alle in seiner Heimatgemeinde, dem Abruzzen-Dorf Barrea, nur „Pasetta“ (abgeleitet von „pasa“ = Knopfloch). Doch aus dem zarten Kerlchen wurde rasch ein kräftiger Junge, der als Elfjähriger zum ersten Mal loszog, um das Gebirge allein zu durchwandern.
Von da an bestimmen die Berge sein Leben: Er zählt zu den Vätern des „Sentiero Italia“, des ersten italienischen Fernwanderwegs, und ist Mitbegründer des „Caminaitalia“, einer Bewegung, die das Wandern im Land noch attraktiver machen möchte. Im Hauptberuf betreibt Pasetta einen Campingplatz. Das Dorfzentrum liegt nur ein paar Schritte entfernt. Am Eingang zum alten Kern weitet sich die Hauptstraße zu einem Aussichtsbalkon, der einen weiten Blick über den zu Füßen liegenden Barrea-Stausee eröffnet.
Hohe Berge, wilde Tiere und dichte Ahornwälder
Rechts ragen der Hausberg Monte Greco (2.283 Meter) und links die waldreichen Höhen des Monti-della-Meta-Massivs empor. Im Hintergrund erhebt sich der Monte Marsciano (2.242 Meter). Weite Teile liegen in der besonders geschützten Zone des Abruzzen-Nationalparks. Eine Gruppe Motorradfahrer dringt in das das bislang stille Panorama ein. Ihre Maschinen nähern sich dem Dorf von unten her über Serpentinen.
Im Café nebenan sitzen in Würde ergraute Herren, die alle Zeit der Welt zu haben scheinen. Wer weiter spaziert, erreicht alsbald das restaurierte Kastell, dessen Mauern eine erweiterte Rundumsicht bieten. So kann man etwa in den dahinter liegenden „Vallone de la Foce“ hinunterschauen, eine schmale Klamm, durch die sich der Sangro-Fluss zwängt.
Morgen, am Tag zwei, wollen wir uns ebenfalls auf ein motorisiertes Zweirad schwingen. Gleich in der Früh brechen wir auf; stilecht auf einem (gemieteten) roten Blechroller erkunden wir die Gegend. Im Gepäck: Entdeckergeist, gute Laune, eine bunt karierte Decke, knuspriges „Pane“ und herzhafte Wildschwein-Würste. Munter schnurrt das Motörchen die Kehren hinauf. Der nächste Weg führt durch die Serra Traversa, eine von dichten Ahornwäldern geprägte Passhöhe.
Glaubt man Pasetta und seinen farbenreichen Schilderungen, sollen dort wieder einige Braunbären durchs Gehölz streifen. Offiziellen Angaben zufolge ist deren Population im gesamten Park auf etwa 100 Tiere angewachsen. Biologen äußern jedoch Zweifel an dieser hohen Zahl. Einig ist man sich hingegen bei den Wölfen: rund 40 sind dokumentiert. Als verbreitet gelten Wildkatze und Steinmarder, ebenso der Luchs. In den Hochlagen kann man gelegentlich Gämsen erspähen, derweil am Himmel unter anderem Mäusebussard und Steinadler kreisen.
Malerische Dörfer und alte Kirchen
Zurück zur Serra Traversa, wo dahinter eine steile, sehr kurvenreiche Straße hinunter in die Provinz Latium führt. An den Hängen kleben malerische Dörfer, wie etwa Settefrati. Es soll im zweiten Jahrhundert von Märtyrer-Söhnen gegründet worden sein, den sogenannten Sieben Brüdern (sette frati). Die Kirche wurde im Jahr 991 zum ersten Mal erwähnt, doch von ihr ist nur noch ein Portal übrig.
Überhaupt keine alte Bausubstanz weist die monumental wirkende Wallfahrtskirche Madonna di Canneto auf, die sich in einem Seitental versteckt. Das ursprüngliche, aus 1288 stammende, stark beschädigte Gotteshaus wurde abgerissen und die Fassade nach Originalplänen wiedererrichtet. Der Innenraum gleicht einem nüchternen Versammlungssaal; er ist dazu gedacht, die vielen Menschen aufzunehmen, die jedes Jahr im August in das entlegene Gebirgstal pilgern. Für den Rückweg nach Barrea wählen wir die Strecke über San Biágio und Alfedena.
Nach Originalem muss man dagegen in Scanno gewiss nicht lange suchen: Das Bergdorf, das man über den Godi-Pass erreicht, mutet wie ein lebendiges Freilichtmuseum an. Nach wie vor sitzen die alten Frauen von Scanno vor den Häusern – gekleidet in ihre traditionellen schwarzen Trachten. Sie schwatzen, sticken und werfen ab und an einen wachsamen Blick auf ihre Enkel, die munter in den Gassen herumtollen. Scannos besonderer Schatz sind die vielen altehrwürdigen Palazzi.
Längst haben wir den Roller wieder gegen das Wohnmobil eingetauscht und staunen über das herrliche Gebirgspanorama, das im benachbarten Maiella-Nationalpark an uns vorüberzieht. Die Abruzzen – das wilde Herz Italiens – begeistern eben nicht nur die K2-Erprobten.
Extra-Tipp Abruzzen: Lago di Scanno
Geheimnisvoll glitzert der Lago di Scanno im hellen Sonnenlicht. Die Farbe seines Wassers variiert zwischen Helltürkis und Kobaltblau. Der Natursee wird weithin gerühmt für seine hervorragende Wasserqualität, was ihn zu einem beliebten Badeziel macht. Die „blaue Flagge“, die über dem Strand am Südufer weht, kündet ebenfalls davon. An den Wochenenden und in den Ferien geht es dort oft sehr lebhaft zu. Es gibt eine große Picknickwiese und vieles mehr. Doch auch Ruhesuchende finden entlang des Ufers garantiert ein schönes Plätzchen. Gleich hinter dem See beginnt die wilde Sagittario-Schlucht (Gole del Sagittario). Auf den Felsen thronen winzige Dörfer. Besuchenswert ist vor allem Castrovalva mit seinen balkongesäumten Gässchen.